Der heimliche Lehrplan von Schulbüchern und -lektüren

Mädchen sollen später mal Hausfrauen werden, Jungs dagegen Ärzte oder Unternehmer. Dieses Rollenbild klingt, als käme es aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert, wird aber auch heute noch oft vermittelt und das sogar in normalen Schulbüchern.

Von den weltweit etwa 1,8 Millionen Kindern wird ein großer Teil glücklicherweise beschult und erhält damit meistens auch Schulbücher. Ob das jedoch auch so großes Glück für die Kindesentwicklung im Blick auf Geschlechtergerechtigkeit und Freiheit in der Gestaltung von Geschlechterrollen ist, ist fraglich. Eine Studie im Auftrag der UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur) ergab, dass Sexismus in Schulbüchern weltweit verbreitet ist. So findet man beispielsweise in einem tansanischen Schulbuch die Aussage “Die Miss Tansania dieses Jahres hat ihren Sieg wirklich verdient. Sie ist sehr schön. Deswegen bewundern sie viele Menschen. Sie ist groß und schlank. Ihr Hals ist so lang wie der einer Giraffe. Ihre Brüste sind spitz wie Nadeln. Außerdem hat sie eine sehr helle Hautfarbe.” In einem türkischen Schulbuch wird ein Bild gezeigt, auf dem das Mädchen* von einer schönen Hochzeit träumt und der Junge* davon, Arzt* zu werden. Solche Beispiele gibt es leider nicht nur in indischen, pakistanischen, türkischen und tansanischen Schulbüchern. Auch in Deutschland und anderen angeblich weiter entwickelten Ländern findet man in den Büchern solche Darstellungen von Jungen*/Männern* und Mädchen*/Frauen*.

In der Studie „Weibliche Vorbilder in Wirtschaftsschulbüchern“ wurde herausgefunden, dass Frauen* im deutschen Schulunterricht kaum als Unternehmerinnen* oder Managerinnen* vorkommen. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass Unternehmen selten von Frauen* gegründet werden – weil das richtige Vorbild, das u. a. von den Schulen vermittelt werden sollte, von klein auf fehlt. Auch in Mathematik-, Erdkunde- oder Geschichtsbüchern überwiegt der Anteil von Beispielen mit Jungs* und Männern*, die häufig als die eigentlich wichtigen Personen des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens dargestellt werden. Vor allem in den Geschichts- und Erdkundebüchern liegt der Anteil von Beispielen mit Mädchen* und Frauen* nur bei etwa ein bis drei Prozent.

Unter anderem die Mitglieder eines mit solchen Themen befassten EU-Ausschusses, meinen daher, diese veraltete Darstellung der Geschlechterrollen würde sich negativ auf das kindliche Verhalten auswirken. Viele würden sich sicher dieser Einschätzung anschließen. Mädchen*, die während ihrer Kindheit und Jugend nicht das Gefühl bekommen, sie könnten später Ärztin*, Architektin*, Naturwissenschaftlerin* oder egal, was sie wollen, werden, ergreifen diesen Beruf später demnach auch nicht oder zumindest nicht so leicht. Träume bleiben dann eben nur Träume. Doch das soll nicht so bleiben. Die UNESCO setzt sich für die Verbesserung der Lehrmittel ein und sammelte unter dem Hashtag #betweenthelines Beispiele für Sexismus in Schulbüchern, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Wenn ich (Karolina) da so an unsere Bücher denke, ist eine Verbesserung teilweise schon nötig. Die „typischen“ Geschlechterrollen und das Verständnis von „Geschlecht“ verändern sich stetig, die Bücher seit dem vorletzten Jahrzehnt aber eher weniger. Nicht, dass die Thematik im Unterricht bei uns, etwa im Fach Geschichte, nicht behandelt würde, die Schulbücher wurden einfach nicht angepasst.

Doch selbst wenn das Bild, welches von Mädchen* und Jungen* in den Schulbüchern gezeigt und damit auch in der gelebten Realität erzeugt wird, endlich den heutigen Standards entsprechen und ein damit eine viel größere Rollenvielfalt präsentieren würde, wäre das Problem nur zum Teil gelöst, denn spätestens in der Mittelstufe fangen wir an, uns mit unterschiedlichsten Autor*innen aus verschiedenen Epochen zu beschäftigen. Was wir lesen, entscheiden die Lehrer*innen meist in Abstimmung untereinander und an Hand von Lektürelisten, die manche Bundesländer zur Verfügung stellen bzw. vorgeben. Wenn ich (Rebecca) mich zurückerinnere, was wir gelesen haben, fallen mir „Faust“, „Der Sandmann“, „Die Vermessung der Welt“ und noch viele Titel mehr wieder ein. Ich habe noch fast alle meiner Schullektüren zu Hause und von den insgesamt 13 Lektüren, die ich im Laufe meiner Schulzeit gelesen habe, sind nur 3 von Frauen* geschrieben. Was uns daran am meisten schockiert? Damit liegt meine Erfahrung deutlich über dem Durchschnitt! Wenn wir die Lektüren aus der Oberstufe betrachten, ist die einzige Lektüre einer Frau* „Corpus Delicti“ von Juli Zeh. Und auch das ist „überdurchschnittlich“! In Bayern, Hamburg, Hessen, Niedersachen, Baden-Württemberg und dem Saarland, gehörte in den letzten Jahren kein einziges Buch einer Frau* zur verpflichtenden Lektüre in der Oberstufe. In Sachsen, Bremen und Nordrhein-Westfalen war es wenigstens ein Buch.

Dabei geht es uns nicht darum, dass wir Bücher von Goethe, Kafka, Schiller und Co. in der Schule lesen sollen, die wohl kaum jemand freiwillig lesen will, es gibt bestimmt auch genauso abgedrehte Texte und Bücher von Frauen. Es geht um viel mehr, es geht um Repräsentation und Vorbilder! Wessen Geschichten werden erzählt, welche Perspektiven werde betrachtet? Wer ist zu sehen, wer hat (Gestaltungs-)Macht? Was ist die Botschaft an die Leser*innen? Wenn wir uns unter diesem Gesichtspunkt die Lektürelisten noch einmal anschauen, wird klar, was uns vermittelt wird: Dass vor allem Männer* von zentraler Bedeutung sind, Wesentliches leisten und Aufmerksamkeit verdienen. Wichtig für die Lesenden ist auch, die Welt aus der Sicht eines Mannes* zu verstehen, sich in ihn* hineinzudenken, zu verstehen, was ihn* bedrückt und woran er* sich freut. Und so müssen sich vor allem Mädchen* und junge Frauen* in Männer* hineindenken und einen Perspektivwechsel vollziehen. Dies wird von Jungen* und jungen Männern* nicht gefordert, denn sie müssen in den meisten Fällen kein Buch einer Frau* lesen und somit nicht die Perspektive wechseln, die Welt einmal aus anderen Augen sehen! Das hat weitreichendere und Mädchen*/Frauen* oft in ihren Entfaltungsmöglichkeiten wie in ihrem Selbstbewusstsein einschränkende Folgen, nicht nur den Erwerb der Fähigkeit, dass Frauen* sich in Männer* oft besser hineinversetzen können als andersherum.

Wer mehr zum Thema lesen will, kann gerne eine Mail an rebecca.heinrich@j-gcl.org schreiben, ihr bekommt dann einen Artikel der Süddeutschen Zeitung zu eben diesem Thema zugeschickt!

Karolina und Rebecca

P. S.: Dieser feministisch orientierte Blog wird vom FATAL-Team gestaltet, welches als Arbeitskreis von jungen Frauen* unseres Verbandes auf Bundesebene 2021 sein 40-jähriges Bestehen feiert. 40 Jahre pädagogische, politische und spirituelle Mädchen*- und Frauen*arbeit!

Bereits im Jahr 1991 führte das FATAL (damals „Frauenkreis“ genannt) eine Schulbuchaktion “Wir ziehen neue Seiten auf!” durch – mit dem Ziel der “Erneuerung von Mädchen/Frauen- und Jungen/Männerbildern in Schulbüchern”. Das ist 30 Jahre her und doch ist das Thema immer noch aktuell: Es wird höchste Zeit, dass sich endlich was verändert!!!