Der schier endlos währende Konflikt in Afghanistan rückt einmal mehr in den Fokus der Welt. Ende 2020 schließen die USA ein Abkommen zur Reduktion ihrer Truppen in Afghanistan mit den militant-islamischen Taliban. Im April 2021 zieht US-Präsident* Joe Biden nach und verkündet den kompletten Abzug der amerikanischen Truppen bis zum 11. September 2021. Mit den USA verlassen am 15. August 2021 auch alle NATO-Partner das Land. Es folgen die weitreichende Machtübernahme durch die Taliban und das Ausfliegen aller Truppen, zuletzt über eine militärisch gesicherte Luftbrücke in Kabul. Tausende afghanische Ortskräfte der NATO bleiben zurück. Auch die restliche Zivilgesellschaft hat kaum eine Chance, aus Kabul und den Gebieten der Taliban zu entkommen. Mit Schrecken blicken vor allem Frauen* und Mädchen* auf die nahende Herrschaft durch die Taliban. Bei vielen sind die Erinnerungen an die letzte Machtübernahme durch die militanten Kämpfer* noch lange nicht vergessen.
Historischer Hintergrund zum Afghanistaneinsatz der NATO
Schon seit 1978 dauert der Konflikt in Afghanistan an und mündet in einen Bürgerkrieg (1989-2001) zwischen den unterschiedlichen Volksgruppen im Land. Das von der scheidenden kommunistischen Regierung hinterlassene Machtvakuum wird zunächst von zahlreichen Mudschahedinparteien ausgefüllt, bis 1996 schließlich die „Islamische Talibanbewegung Afghanistans“ (kurz: Taliban) die Macht an sich reißt und das „Islamische Emirat Afghanistan“ ausruft Sie gewähren bekannten islamistischen Terroristen* wie Osama bin Laden, Anführer* und Gründer* der Gruppe al-Quaida, Unterschlupf im Land und Unterstützung. Die Taliban setzen ihre religiösen Verhaltensvorschriften und Regeln (Scharia) erbarmungslos und mit viel Gewalt durch. Musik und Fernsehen werden verboten, „mittelalterliche“ Folterstrafen wieder eingeführt, eine „Scharia-Polizei“ zur Überwachung der Einhaltung der Scharia aufgebaut. Doch am härtesten treffen die Vorschriften die Frauen* und Mädchen*. Sie werden nahezu komplett aus dem öffentlichen Leben verbannt, dürfen nicht mehr zur Arbeit gehen, Schulen werden ab einem bestimmten Alter nur noch für Jungen* zugelassen oder komplett geschlossen. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001, die der al-Quaida hauptsächlich durch die Unterstützung der Taliban gelangen, wendet sich das Blatt. Die USA starten zusammen mit Großbritannien einen Militäreinsatz in Afghanistan, viele weitere Länder (unter anderem Deutschland) unterstützen im Verlauf den Wiederaufbau des Landes, den Bau von Schulen und Krankenhäusern sowie die Ausbildung der afghanischen Polizei und des Militärs. Doch Konflikte mit den und Eroberungen durch die Taliban wie auch Terroranschläge zählen weiter zum Alltag der Menschen. Schließlich erfolgt der Rückzug der westlichen Mächte und die erneute Übernahme der Macht durch die Taliban.[1][2]
Situation der Frauen* und Mädchen* während des Afghanistaneinsatzes (2001-2021)
Durch die starke Beeinflussung der neuen afghanischen Regierung durch die westlichen NATO-Staaten könnte man glauben, dass sich die Situation der Frauen* in Afghanistan nach dem Sturz der Talibanregierung drastisch verbessert haben müsste. Zwar ist der Frauen*anteil in den Parlamenten seit 2001 stark gestiegen und auch die Vertretung von Frauen* in der Justiz hat sich um einiges gebessert, doch ein großer Teil der neuen Regierung besteht aus ehemaligen Mitgliedern der ebenfalls radikalislamischen, fundamentalistischen Mudschahedinparteien. Diese versuchen, die Ausweitung der Einhaltung von Frauen*- und Menschenrechten zu begrenzen. Gesetze, die auf dem Papier gebilligt werden, sind in der Realität oft noch weit von der Umsetzung entfernt. Die Probleme der Frauen* und Mädchen* sind vielfältig: Der Zugang zu Bildung ist enorm erschwert. Nur etwa 60 % der 10-jährigen Mädchen* besuchen die Grundschule, bei den 15-Jährigen gehen gerade noch 30 % zur Schule. Dies liegt zum einen an der Armut vieler Familien, die sich die Bildung ihrer Töchter* nicht (mehr) leisten können. Gerade in ländlichen Gebieten kommt ein weiter Schulweg erschwerend hinzu. Auch Kinder- und Zwangsheirat ist weiterhin üblich. In Afghanistan liegt das gesetzliche Heiratsalter bei 16 Jahren. Häufig werden die Töchter* aus wirtschaftlich-gesellschaftlichen Gründen schon sehr früh zwangsverheiratet. Meistens endet damit auch der „offizielle“ Bildungsweg der Mädchen*. Es ist nicht unüblich, dass die Frauen* kurz nach der Eheschließung schwanger werden. Auf Grund der schlechten medizinischen Versorgung und der Mangelernährung ist die Mütter*- und Kindersterblichkeit enorm groß. In dem kriegsgezeichneten Land sind Frauen* auf den Straßen andauernder Gefahr ausgesetzt. Vergewaltigungen zählen zur traurigen Alltagsrealität. Da Vergewaltigungen im afghanischen Recht als außerehelicher Geschlechtsverkehr gezählt werden und dieser strikt verboten ist, sehen sich die betroffenen Frauen* danach zusätzlich oft harten Strafen ausgesetzt. Geschützte Räume für Frauen* gibt es im ganzen Land gerade einmal 25 – viel zu wenig. Genau deshalb ist das Engagement von Aktivist*innen und Hilfsorganisationen besonders wichtig.[3]
»Sie sind nur “die Frau* von…” oder “die Tochter* von…”, manchmal vielleicht “die Mutter* von…”«
Dass Frauen* in Afghanistan in der Öffentlichkeit nicht bei ihrem Namen genannt werden, ist gesellschaftlich tief verwurzelt. Auch auf Ausweisdokumenten, Geburtsurkunden der Kinder und Rezepten von Ärzt*innen sind sie nur „die Frau* von…“, oder „die Tochter* von…“, manchmal vielleicht „die Mutter* von…“. Gegen diese Diskriminierung startete Laleh Osmany 2017 die Kampagne #WhereIsMyName, die in den afghanischen Medien heiß diskutiert wurde und nachhaltig für Aufruhr sorgte. Schließlich gelang auf Grund der Kampagne eine Gesetzesänderung, die es Frauen* ermöglicht, ihren eigenen Namen in offiziellen Dokumenten zu verwenden und ihnen somit erstmals eine „öffentliche Identität“ gibt. Zweifelsfrei ein Schritt zu mehr Eigenständigkeit und Individualität der Frauen*. Doch diese Errungenschaften haben einen hohen Preis: Frauen*- und Menschenrechtsaktivist*innen müssen mit Anschlägen auf ihr Leben rechnen.[4]
Mit Beginn der Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und den USA in Qatar 2019 bildet sich eine weitere Kampagne für die hart erkämpften Rechte der Menschen in Afghanistan. #MyRedLine gibt ALLEN Afghan*innen das Wort. Sie ziehen ihre „Rote Linie“ dort, wo für sie mit der Machtübernahme durch die Taliban Freiheitsrechte in Gefahr sind. In hunderten kurzen Videos erklären Frauen*, Männer*, Kinder, Arme, Reiche – Menschen aus allen Gesellschaftsschichten – wo ihre Rote Linie ist. Das erste Video stammt von Farahnaz Forotan. Die junge Frau* sagt im Hinblick auf die Machtübernahme der Taliban:
„Ich bin Journalistin und möchte Journalistin bleiben. Meine Rote Linie ist mein Stift und meine Meinungsfreiheit.“[5]
Situation der Frauen* und Mädchen* nach der erneuten Machtübernahme durch die Taliban
Mit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 bewahrheiten sich die Befürchtungen vieler Afghan*innen. Wie bei der ersten Herrschaft der Taliban in den späten 90er Jahren gelten überaus restriktive Gesetze, was die Freiheit der Frauen* angeht, und die harterkämpften Fortschritte der letzten 20 Jahre verpuffen innerhalb eines Tages. Frauen* ist es von nun an nur noch in Begleitung eines männlichen Vormundes* (der sog. Mahram) erlaubt, das Haus zu verlassen. Die Taliban verkünden, Frauen* sollten das Haus zu ihrer eigenen Sicherheit nicht mehr verlassen. Das Ausüben eines Berufes ist Frauen* mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel im Gesundheitssektor, nicht mehr erlaubt. Dies sind heftige Freiheitseinschränkungen, welche nicht nur bei Alleinerziehenden und Familien, die auf das Einkommen der Frau* angewiesen sind, zu großen Problemen führen. Mit der Machtübernahme der Taliban wurden viele internationale Hilfsgelder, Aufbau- und Unterstützungsprojekte in Afghanistan eingestellt. Auch die Vermögenswerte der afghanischen Regierung wurden von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) eingefroren. Diese Kombination hat in dem sowieso schon kriegsgeschwächten Land katastrophale Folgen. Die Banken können den Kund*innen keine Gelder mehr auszahlen, häufig warten die Menschen tagelang auf etwas Geld, mit dem sie sich auf Grund der starken Inflation kaum genug zu essen kaufen können. Die Hungersnöte im Land verstärken sich, was zu Überlastungen des Gesundheitssystems führt. In den vergangenen 20 Jahren waren viele Krankenhäuser mit Hilfe von internationalen Projekten errichtet und unterhalten worden. Mit dem Rückzug der NATO-Mächte fehlt es nun an den nötigsten Medikamenten, Geräten für Untersuchungen und vielem mehr. Mit der Erlaubnis, Frauen* weiter im Gesundheitssektor arbeiten zu lassen, versuchen die Taliban, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Und auch die Frauen*, die nun nicht mehr arbeiten dürfen leiden unter der aktuellen Lage. Besonders ehemalige Angestellte der Justiz, Polizei oder Politik müssen um ihr Leben fürchten. In den Monaten nach der Machtergreifung folgen weitere drastische Einschränkungen. Seit dem 20. September 2021 beispielsweise dürfen Mädchen* ab dem 12. Lebensjahr nicht mehr zur Schule gehen. Für die kommende Generation der Afghaninnen* wird die Schulbildung somit nach der 6. Klasse beendet sein. Und auch im Hochschulwesen gibt es Einschnitte. Von nun an ist es Studierenden unterschiedlicher Geschlechter nicht mehr gestattet, miteinander zu studieren. Vorlesungen müssen also geschlechtergetrennt angeboten werden. Das heißt auch, dass Männer* nur noch von männlichen und Frauen* nur noch von weiblichen Dozent*innen betreut werden dürfen. Gerade im MINT-Bereich gibt es kaum Absolventinnen*, die die jeweiligen Fächer unterrichten könnten. Diese Studienangebote werden eingestellt, bis es genug Personal gibt; ob das jemals der Fall sein wird, ist ungewiss. Noch geben sich die Machthaber der Taliban erstaunlich „liberal“, doch was von einer Regierung zu erwarten ist, in der keine einzige Frau* vertreten ist und die Frauen*rechte im Rahmen der Scharia gestattet, ist den meisten klar.
Genau deshalb ist es so wichtig, die Frauen* in Afghanistan zu unterstützen. Spenden werden unter anderem von Amnesty International gesammelt. Mit den Spendengeldern werden besonders bedrohte Frauen* und Mädchen*, die sich öffentlich für ihre Rechte und die Demokratie einsetzen, in Sicherheit gebracht. [6][7](Spenden könnt ihr hier: https://action.amnesty.at/spende/afghanistan-helfen) – Auch „medica mondiale“ engagiert sich auf vielfältige Art und Weise für afghanische Frauen und mit ihnen. (https://www.medicamondiale.org/wo-wir-arbeiten/afghanistan.html)
Nachtrag zur Aktualisierung des Beitrages, der Ende 2021 entstanden ist. Er wurde von Catha geschrieben und die folgende Anmerkung stammt vom FATAL 2022:
Auch heute noch ist die Zukunft für Frauen* in Afghanistan geprägt von Angst und Ungewissheit. Es werden immer mehr Gesetzte erlassen, die Frauen* aus dem öffentlichen Leben ausschließen, beispielsweise strengere Kleidungsvorschriften, wie die Aufforderung zum Tragen einer gesichtsverschleiernden Burka, oder der bereits erwähnte stark beschränkte Zugang zur Bildung. Zudem soll ein neues Gesetz unterzeichnet werden, welches nach einem Bericht des „Guardian“ erlaubt, Frauen* und weibliche* Familienmitglieder anzugreifen, ohne verklagt zu werden[8]. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) spricht sogar von einer „groß angelegten und systematischen“ Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen*.
[1] https://www.bpb.de/internationales/asien/afghanistan/
[2] https://www.cfr.org/timeline/us-war-afghanistan
[3] https://www.medicamondiale.org/wo-wir-arbeiten/afghanistan.html
[4] https://www.youtube.com/watch?v=MDO0lgSvFRo
[6] https://www.amnesty.at/themen/menschenrechtskrise-in-afghanistan/sie-sind-die-revolution-afghanische-frauen-kaempfen-um-ihre-zukunft/
[7] https://www.amnesty.ch/de/laender/asien-pazifik/afghanistan/dok/2021/die-internationale-gemeinschaft-muss-sich-fuer-frauenrechte-einsetzen
[8] https://www.theguardian.com/world/2014/feb/04/afghanistan-law-victims-violence-women