Ein kleiner Satz mit großer Wirkung – Erfahrungsbericht zu Magersucht

Schätzungen zufolge leiden in Deutschland mehr als eine halbe Million Frauen* und Mädchen* an einer Essstörung. Auch die Zahl der jungen Männer*, die an einer Essstörung erkranken, ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Insgesamt treten die Erkrankungen in einem immer jüngeren Alter auf. Rund 33 % der 14- bis 17-jährigen Mädchen* zeigen erste Symptome einer Essstörung – d. h. dass jedes dritte Mädchen* betroffen ist.

Die drei häufigsten Essstörungen sind Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht, d. h. übermäßige Nahrungsaufnahme und daran anschließendes, selbst herbeigeführtes Erbrechen) und die Binge-Eating-Störung (Esssucht ohne Erbrechen). Mehr Infos hier: https://www.bzga-essstoerungen.de/

Auch ich, eure liebe Kerstin, bin im Alter von zwölf Jahren an Magersucht erkrankt.

In der sechsten Klasse habe ich aufgehört zu frühstücken. Ich wollte ein wenig abnehmen, da ich aus meiner Sicht sehr pummelig war. Meinen Eltern habe ich gesagt, ich würde nicht mehr frühstücken, weil mir sonst im Bus schlecht werden würde. Lüge! Warum ich damals gelogen habe, war mir zu dem Zeitpunkt selbst noch nicht klar, doch mit der Zeit log ich immer öfter, um dem Essen aus dem Weg zu gehen. Zusätzlich habe ich damit angefangen, Sport zu treiben – ist ja alles gesund und gut für meinen Körper! So ging das bis in die neunte Klasse: mehr Sport, weniger Essen. Meine Brotzeit bekam eine Freundin* oder der Mülleimer.

Bis zu diesem Zeitpunkt war mir selbst nicht bewusst, dass das, was ich tue, nicht normal ist. Ich war der festen Ansicht, dass ich ja nur ein wenig abnehmen will und alle anderen mich daran hindern. Nachdem ich nicht mehr gefrühstückt habe, mein Pausenbrot erfolgreich verschwinden ließ und auch sonst bis nach der Schule nichts aß, fiel mir auf, dass zwei Mahlzeiten am Tag in meinem Kopf immer noch sehr viel waren, also: Weg mit dem Abendessen! Eine Mahlzeit am Tag ist genug.

Und dann gab‘s diesen einen Morgen, an dem meine Mutter in mein Zimmer kam und mich fragte, warum ich denn so wenig esse und ob ich Hilfe brauche. In dem Moment bin ich komplett zusammengebrochen und habe ihr weinend erzählt, dass ich einfach nicht mehr essen kann.

Das Problem bei meiner Magersucht war aber, dass ich sie, abgesehen von diesem kurzen Moment, nie loswerden wollte. „Ich habe Disziplin und mache viel Sport, ich spare Geld, weil ich nichts für Essen ausgebe und wenn ich schon für sonst nichts gut bin, bin ich wenigstens die Dünnste*.“ – so dachte ich! Eine Magersucht scheint deine* beste* Freundin* zu sein: sie* hilft dir, während alle anderen „dich fett machen wollen“. Kalorien zu verbrennen war mein Antrieb, um morgens aus dem Bett zu kommen!

Nach dem Gespräch mit meiner Mutter begab ich mich in eine Therapie, in der ich gelernt habe, dass eine Magersucht wie Herpes ist; manche haben sie, andere nicht, aber nicht bei jeder Person, die sie hat, bricht sie auch aus. Dafür gibt es einen Auslöser, in meinem Fall Worte, die jemand in der sechsten Klasse gesagt hat und die dazu führten, dass ich drei Jahre später kurz vor einer Klinik-Einweisung stand.

Als ich die Bestätigung bekam, dass ich an einer Magersucht und einer Depression erkrankt bin, wurde alles erst mal nur noch schlimmer. Ich fühlte mich jetzt noch viel dicker. Davor war ich ein Mädchen*, das ein wenig abnehmen wollte, jetzt war ich eine Magersüchtige*, die noch im Normalgewicht war. Darum habe ich meiner Mutter von etlichen (nie stattgefundenen) Freistunden erzählt, in denen ich angeblich etwas gegessen hatte, um auch noch dem Mittagessen aus dem Weg zu gehen. Das hatte tagelanges Fasten zur Folge. Nach der Schule konnte niemand mehr zu mir kommen, weil ich mein Bauchmuskeltraining machen „musste“ und, wenn ich beispielsweise auf der J-GCL-Jahreskonferenz war, habe ich oben im Zimmer mein Sportprogramm gemacht, während unten gegessen wurde. Es gab in meinem Leben nur noch das eine Ziel, nämlich immer weniger zu wiegen, alles andere war zweitrangig.

Mit dem Sport habe ich dann allerdings wieder aufgehört, Muskeln brauchen Platz und machen mich dick! Es war ganz einfach: Wenn ich nichts aß, war es ein guter Tag, wenn ich etwas aß, war es ein schlechter. Selbst die Kalorien von Tee und Kaugummi wurden mit eingerechnet, sind immerhin zwei pro Teebeutel! Etwas mit Freund*innen zu unternehmen wurde immer schwieriger, da die Gefahr bestand, dass es irgendwann um Essen geht und das konnte ich nicht riskieren.

Mein Körper kam natürlich auch nicht unbeschadet davon. Mir war immer kalt und ich bekam überall mehr Haare, außer auf dem Kopf, da fielen sie aus. Ständig hatte ich überall blaue Flecken und meine Periode hatte ich schon lang nicht mehr.

Nachdem mir mitgeteilt wurde, dass ich, wenn das so weiter ginge, nicht mehr ambulant behandelt werden könnte, sondern in eine Klinik müsste und meinen Schulabschluss knicken könnte, habe ich angefangen zuzunehmen. Mir ging’s noch nie schlechter. Alles, was ich erreicht hatte, gab ich meiner Ansicht nach mit jedem Kilo auf, das ich zunahm. Ich hatte keine Motivation mehr, morgens aufzustehen und als ich wieder 50 kg wog, kam ich jeden Tag weinend zur Schule, weil ich das Gefühl nicht ertragen konnte, im Sitzen keinen flachen Bauch zu haben. Wenn man wieder zunimmt, bildet sich erst einmal ein Fett-Ring um die wichtigsten Organe, um sie zu schützen. Allein schon diese Vorstellung hat bei mir das Gefühl ausgelöst, völlig unattraktiv zu sein. Ich konnte mich nur noch unter Pullis verstecken.

Was den Teufelskreis der Magersucht aufrechterhält, ist meiner Meinung nach, dass man sich von allen Menschen abschottet. Dadurch ist man allein und fragt sich: Wer ist dann noch da? Meine Antwort darauf war damals: die Magersucht, die dir ein Ziel gibt, wenn alle anderen dich verlassen.

Durch die Therapie habe ich sehr viel über mich selbst gelernt und erfahren. Ich bin tatsächlich froh, diese Erfahrungen gemacht zu haben.

Mit der Zeit wurde es besser. Es gibt immer noch Zeiten, in denen ich das Gefühl habe, aufgegeben zu haben, aber dann mache ich mir bewusst, dass ich wieder mit meiner Familie zusammensitzen kann, dass ich meine Freund*innen wieder treffen kann, dass ich wieder in den Spiegel schauen kann und dass ich wieder eine Beziehung führen kann! Dies alles, was mit der Magersucht nicht mehr möglich war, ist mir sehr viel wert.

Kerstin